Offizielle Rundbriefe

Masdames et Messieurs,

in dieser Kategorie veröffentliche ich meine Rundbriefe – viel Spass beim Lesen.


Boissy Saint Léger, November 2009

1. Rundbrief

Liebe Förderer,

liebe Freunde, liebe Leser,

ich bin nun schon mehr als zwei Monate hier und werde mir immer mehr, auch aufgrund der Tatsache, dass nun schon mein erster Rundbrief ansteht, bewusst, dass ich angekommen bin in Boissy Saint Léger. Boissy ist eine kleinere Gemeinde im großen Siedlungsgebiet der Île-de-France, ca. 20 Kilometer südöstlich vom Pariser Stadtkern entfernt.

Hier wohne und arbeite ich seit Anfang September in einem Wohnheim für minderjährige Flüchtlinge, dem C.A.O.M.I.D.A. (centre d’acceuil et d’orientation pour mineurs isolés demandeurs d’asile – auf Deutsch: Empfangs- und Orientierungszentrum für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge/Asylanträger). Das CAOMIDA gehört zu France Terre d’Asile, einer in ganz Frankreich aktiven Organisation, die sich dem Schutze und der Verteidigung von Flüchtlingen und Migranten und ihren Rechten in Frankreich und Europa verschrieben hat. FTDA unterhält insgesamt circa 30 Zentren, darunter ist das CAOMIDA als Zentrum für ausschließlich Minderjährige einzigartig.

Es ist ein ehemaliges Hotel mit vier Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich Küche, Speisesaal, Klassenraum, Empfang und ein Büro. Die erste Etage besteht aus Büros von Chef bis Hausmeister, in zweiter und dritter Etage leben die Jugendlichen in Zweierzimmern mit kleinem Bad, in der vierten Etage sind allerlei ungenutzte Räume, wie auch die Zimmer der Freiwilligen, mir und Lasse, einem weiteren Deutschen der für FTDA in Paris arbeitet[1]. Wir haben es uns in den ersten Wochen schön eingerichtet und haben zudem von unseren Vorgängern einen dritten Raum geerbt, der eine Mini-Küche, einen Fernseher, zwei Sessel und ein Sofa beinhaltet – für freie Stunden ein schönes Zimmerchen.

Zurzeit leben hier 30 junge Menschen aus aller Welt, die vor Bürgerkrieg und Gewalt, vor allem aber um irgendwo ein besseres Leben führen zu können, aus ihren Heimatländern geflüchtet sind. Unsere „jeunes“ kommen zum großen Teil aus afrikanischen Ländern, aus dem Tschad, aus Somalia, aber auch aus Afghanistan oder Sri Lanka. Sie sind diese Jugendlichen, von denen ich vorher höchstens in den Medien gehört habe. Es sind diese jungen Menschen, die in Somalia zu Dutzenden in ein kleines Boot steigen und nach tagelanger Fahrt über offenes Meer in Griechenland oder Italien an Land gehen, diese, die zu Fuß und in LKW versteckt aus Afghanistan flüchten. Es sind Jugendliche, die teilweise ihre gesamte Familie verloren und keine Perspektive mehr haben, solche, die ihr gesamtes Hab und Gut verkauft haben, wo die Familie alles zusammengeschmissen hat, um ein Flugticket nach Europa zu kaufen.

Es kommen sehr viele Flüchtlinge nach Frankreich, vor allem natürlich auch in eine riesige Metropolregion wie Paris. Nur diejenigen unter ihnen, die nach ärztlichen Tests als minderjährig eingestuft werden, können finanziell unterstützt und rechtlich vertreten werden. Sie bekommen nötige Kleidung, Französischunterricht, meist ein Dach über dem Kopf, Einkaufsgutscheine und einen rechtlichen Vertreter. Und dennoch eröffnet sich im Endeffekt nur Wenigen die Chance, in ein Zentrum wie das CAOMIDA zu kommen.

Im CAOMIDA arbeiten eine Equipe éducative, bestehend aus 8 Erzieherinnen und Erziehern, ein Chef, Sekretärinnen, ein Personalleiter, ein Psychologe, eine Juristin, eine Lehrerin, ein Hausmeister, ein Koch und Nachtwächter. Bis vor kurzem arbeitete hier auch noch ein Animateur, der allerdings aufgehört hat, sodass ich seit meiner Ankunft der einzige Animateur bin. Und damit komme ich auch zu meinen Aufgaben und Arbeiten.

Hauptsächlich organisiere ich Ausflüge und Aktivitäten für die Jugendlichen. Beispielsweise gehe ich häufig mit ihnen ins Kino, aber auch Fußballspielen, Schlittschuhlaufen, und Bowling sind bei den jeunes sehr beliebt. Für andere Aktivitäten wie Theater- und Museumsbesuche ist der Andrang dann aber entsprechend geringer. Auch bietet es sich immer an, die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen, welche die Jugendlichen leider zum Großteil überhaupt nicht kennen. Diese Animationen fallen in der Regel in die Nachmittage und ins Wochenende, weil die Mehrheit der Jugendlichen vormittags am öffentlichen Schulunterricht teilnimmt. Manchmal stehen ganz besondere Sachen an, dass kann eine Bootsrundfahrt auf der Seine sein, ein Rugbyspiel im Stadion oder ein Tagesausflug ins Disneyland.

Letzteres haben wir Anfang November mit allen Jugendlichen und einigen Mitarbeitern gemacht. Die Organisation lag dabei größtenteils bei mir. Es war wirklich nicht einfach und einiges an Arbeit – alles selbstverständlich auf Französisch, was weitere Schwierigkeiten hervorrief. Es war für alle Jugendlichen und Begleiter aber ein sehr gelungener, schöner Tag.

Alle diese Ausflüge beinhalten natürlich immer ihre Schwierigkeiten und auf der anderen Seite großen Spaß und große Freuden. Zum Beispiel, dass, für die jeunes manchmal unverständlich, natürlich nicht immer jeder Willige mit ins Kino kommen kann und dass sich die Abfahrtszeit regelmäßig um etliche Minuten verzögert. Natürlich ist es aber auch ein Riesenspaß mit 8 jeunes im Auto irgendwo hinzufahren und dabei laut Musik zu hören, sie beim Schlittschuhlaufen zu stützen damit sie sich nicht das Steißbein brechen und auf dem Arc de Triomphe Photos von ihnen vor der Kulisse des traumhaften Paris zu machen.

Diese Erste, mit den Jugendlichen etwas zu unternehmen, ist meine wichtigste Aufgabe hier. Die Jugendlichen werden dadurch einerseits beschäftigt, andererseits lernen sie natürlich auch Kultur, Stadt und Leute kennen. Es hilft ihnen sich abzulenken. Zusätzlich ist es eine ganz wichtige Sache, die hilft, die Jugendlichen langfristig ein wenig in die Gesellschaft zu integrieren.

Außerdem helfe ich auch viel bei der täglichen Arbeit. Ich helfe dem Hausmeister, begleite Jugendliche und Educateurs und helfe bei den Hausaufgaben. Genauso begleite ich auch häufig die Lehrerin zu Ausflügen ins Museum oder donnerstags in eine Multimedia-Bibliothek, wo die Jugendlichen den Umgang mit dem Computer und Word lernen.

Je länger ich hier bin, desto mehr komme ich auch mit den jeunes persönlich in Kontakt. Ich unterhalte mich mit ihnen in ihrem meist sehr gebrochenen Französisch und wir lachen viel zusammen. Durch die Animationen und die gemeinsam verbrachte Zeit lerne ich sie immer besser kennen. Besonders viel unterhalte ich mich mit Heinrich[2], er kommt ursprünglich aus Afghanistan und ist mit gefälschten Papieren letztendlich bis nach Frankreich gekommen, wo er auf der Strasse aufgegriffen wurde. Er wollte ursprünglich nach England, war auf dem Weg nach Calais. Warum er nach Englang wollte, kann er nicht so genau sagen, er spricht sehr gut Englisch und hatte zudem gehört man könne dort gut leben. Er ist ein sehr aufgeschlossener und ehrgeiziger Typ. Sein Französisch wird von Woche zu Woche besser und jeden Tag fragt er mir Löcher in den Bauch, nach Vokabeln, Bedeutungen und vielem mehr. Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie es ihm geht, was er durchgemacht hat, denn auch er hat eine schreckliche Kindheit haben müssen. Oft merkt man es den Jugendlichen nicht sofort an, sie alle haben schwer mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Das äußert sich dann zum Beispiel darin, dass sie massive Schlafprobleme haben.

Meine Arbeit ist bei weitem nicht immer einfach, aber ich komme gut klar und bin bisher wirklich sehr zufrieden! Leider wird es immer kälter, mit dem Herbst gehen auch die Möglichkeiten, draußen Sport zu machen und die jeunes werden träger. Aber es wird auch wieder wärmer und als nächstes werde ich mich um ein Budget für die Weihnachtsdeko kümmern, man sieht, ich habe immer was zu tun.

Ich freue mich auf Fragen und antworte sehr gerne.

Ich möchte außerdem noch auf meinen Blog hinweisen: http://www.juliusaparis.wordpress.com

Merci de votre soutien et à bientôt.

Vielen Dank für eure/ihre Unterstützung.

Viele liebe Grüße hinaus in die Welt,

Julius Holsten.


[1] Siehe auch „1. Rundbrief Lasse Jost“ – http://www.aktiv-zivil.de

[2] Name von der Redaktion geändert

Boissy Saint Léger, Februar 2010

2. Rundbrief  – Julius Holsten

Liebe Förderer,

liebe Freunde, liebe Leser,

in meinen zweiten Rundbrief möchte ich mich sowohl mit dem Thema Kultur als auch mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Deutschland und Frankreich beschäftigen. Das Thema Kultur war von Anfang an sehr wichtig. Schon bevor ich meinen Friedensdienst begann haben wir uns schließlich auf dem Ausreiseseminar Gedanken zur anderen Kultur und Gesellschaft im Gastland gemacht. Und selbstverständlich war auch das Interesse daran sehr wichtig für die Entscheidung, mein Projekt hier im CAOMIDA zu beginnen. Nun muss man aber auch sagen, dass sich die Kulturen innerhalb Zentraleuropas natürlich nicht derart voneinander unterscheiden, wie es zwei Kulturen zweier sehr unterschiedlicher Regionen dieser Erde tun. Nichts desto trotz, es gibt einiges zu erleben in Frankreich.

Zunächst möchte ich eine Unterscheidung machen auf die auch hier immer hingewiesen wird. Paris ist nicht Frankreich und in Frankreich lebt man anders als in Paris. Soll heißen, dass Kultur und Gesellschaft natürlich in einer Riesenmetropole wie Paris – im Großraum Paris leben knapp13 Millionen Menschen (ca. 20% der Gesamtbevölkerung) – nicht der im Rest Frankreichs entsprechen. Über ihre Hauptstadt sagen die Franzosen auch, „metro, boulot, dodo!“ – „Metro, Arbeit, Schlafen“. In der Tat sieht das Leben vieler Großstädter so aus, wenn zu neun täglichen Arbeitsstunden noch zwei Stunden Metro kommen und nicht mehr viel Freizeit bleibt. Paris ist eine Multikultistadt, nicht zuletzt beträgt der Anteil nichfranzösischer Bevölkerung in Paris und Umgebung 14%. Auch dass macht den Unterschied zum Rest Frankreichs aus. Diese Gesellschaft ist vor allem auch dadurch bedingt, dass Frankreich eine große Kolonialmacht war und seit Mitte des Jahrhunderts viele, oft francophone, Afrikaner nach Frankreich emigrierten. Das multikulturelle Zusammenleben zeigt sich effektiv überall, selbst auf der Strasse, wo wohl jeder seinen eigenen Fahrstil hat und man, aus dem geregelten deutschen Straßenverkehr kommend, doch oft überrascht wird. Genauso ist das Auto, bei uns eher eine Art Prestigeobjekt, hier deutlich mehr ein Fortbewegungs-, ein Transportmittel. Ein Kratzer im Lack stört also in der Regel niemanden und beim Parken steht man Stossstange an Stossstange. Die Metro wird somit natürlich zum besten Verkehrsmittel und bleibt zudem auch das Schnellste. In Paris gibt es 14 Metro-, dazu kommen 5 RER- (S-Bahn) und 3 Tramlinien. Man kommt überall hin und das auch 20 Stunden am Tag. Zumindest für mich, der ich aus dem kleinen Mönchengladbach komme, ist das eine große Veränderung und Umstellung, an die man sich aber sehr schnell gewöhnen kann. Vorausgesetzt natürlich, dass nicht gerade gestreikt wird. Man spricht bei uns viel über die Streikkultur der Franzosen und ich habe sie zwar noch nicht in aller Fülle aber doch zumindest ein wenig kennengelernt. Wenn meine RER-Linie also beispielsweise wie vor Weihnachten 2,5 Wochen bestreikt wird, geht die Hälfte der Menschen nicht mehr arbeiten und die Strassen sind ob des zusätzlichen Verkehrsaufkommens gnadenlos verstopft.

Dieses Vorurteil sieht sich also schon mal bestätigt, genauso wie ich auch sagen muss, das der gemeine Franzose in der Regel zu spät ist. So fängt eine für 10 Uhr angesetzte Besprechung um halb 11 an, ein offizieller Neujahrsempfang gute Zwei Stunden später und der Kollege kommt zu spät, weil es Probleme mit der Metro gab. Man muss aber auch sagen, dass man sich oft nicht viel daraus macht. Es heißt einfach, man komme später, dann ist alles okay.

Das Essen bestimmt in Frankreich zu wesentlichem Anteil den Tagesablauf. Das Frühstück fällt in der Regel sehr klein aus. Ein kleiner Café, eventuell ein Croissant. Auch zu Mittag isst man nicht zu viel, denn richtig essen tut man abends, dann, echt französisch, auch mehrere Gänge, von Aparatif bis Digestif. Die meisten Angestellten in Frankreich bekommen Tickets Restaurant, Essensgutscheine, die vom Gehalt abgezogen werden. Beispielsweise bekomme auch ich im Monat um die 20 Tickets. Somit geht man natürlich öfter aus, da man die Tickets nur für Restaurants verwenden kann. Überhaupt gibt es hier alle möglichen Arten von Gutscheinen. Es fängt bei den Tickets Restau an und hört bei „Weihnachtsgeschenkegutschein für die Kinder“ noch lange nicht auf.

Deutschland ist Weltmeister im Mülltrennen, die Franzosen merken gerade erst, dass es verschiedene Müllarten gibt. Nein, so drastisch ist es nicht, allerdings wird zumindest in Paris auf Mülltrennung nahezu nicht geachtet. Nur sehr selten sieht man zum Beispiel einen eigenen Mülleimer für Glas.

Die Franzosen sind verhältnismäßig unreligiös. Nur knapp zwölf Prozent der Christen und etwa 15 Prozent der Juden sind praktizierende Gläubige. Damit ist Frankreich auch international einzigartig, es gibt keine andere so unreligiöse Gesellschaft. Ob das an den französischen Aufklärern liegt oder andere Gründe hat, bleibt dahingestellt.

Für mich persönlich bedeutet das Leben in Frankreich, in einer anderen zentraleuropäischen Kultur aber eigentlich viel mehr als diese teils kleinen, teils großen Unterschiede zu Deutschland. Vor allem die Tatsache, in einem anderen Sprachraum zu leben, macht die größte Erfahrung aus. Eine andere Sprache zu sprechen und zu lernen macht unheimlich Spaß. Es begleitet mich schließlich durch den ganzen Tag und ständig kommen neue Situationen hinzu, in denen man sich beweisen muss. Wenn ich zu Besuch zu Hause war, habe ich mich wirklich gewundert, dass alle Leute um mich herum Deutsch sprechen.

Ich habe nun schon sechs Monate meines FFD geleistet und die Zeit ist im Nachhinein nur so verflogen. Sechs Monate, in denen ich aber auch sehr viel erlebt und gemacht habe.  Ich habe vieles kennengelernt, allerdings auch echt viel gearbeitet.

Nun folgt ein weiteres halbes Jahr, für das ich mir noch viel vorgenommen habe. So langsam beginnt der Frühling, ich werde Paris und Frankreich weiter entdecken können noch viele schöne und interessante Animationen mit den Jugendlichen machen.

Ich danke meinen Unterstützern und der eKiR ganz herzlich für die Möglichkeit, hier sein zu können, die Erfahrungen sind in jeder Hinsicht eine große Bereicherung für mich.

Liebe Grüße,

Julius Holsten,

C.A.O.M.I.D.A., Paris

Boissy Saint Léger, Mai 2010

3. Rundbrief  – Julius Holsten

Liebe Förderer,

liebe Freunde, liebe Leser,

ich melde mich hiermit im Wonnemonat Mai mit meinem dritten Rundbrief wieder einmal bei euch und Ihnen. Mittlerweile sind meine letzen drei Monate im Projekt angebrochen, es geht also wirklich langsam zu Ende. Die Zeit – dass kann ich gar nicht oft genug sagen – vergeht wie im Fluge und ich frage mich, wo sie geblieben ist.

Für den dritten Rundbrief ist kein Thema bestimmt. Ich möchte ihn einfach dafür nutzen zu erzählen was mir einfällt und was mich beschäftigt.

Im CAOMIDA geht es mal wieder drunter und drüber. Das Leben wird nie langweilig hier und es kehrt wohl auch nie Ruhe ein.

Nachdem wir lange Zeit statt 33 nur ca. 25 „jeunes“ hatten, sind wir jetzt wieder voll besetzt. In den beiden vergangenen Wochen wurden unter Anderen 6 neue afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Warum ich erwähne, dass es Afghanen sind, ist im Hinblick auf mögliche Grüppchenbildungen ganz wichtig. Es ist so, dass sie schon knapp ein Drittel aller jeunes ausmachen. Dass eine solch große Gruppe, die leider zu sehr unter sich bleibt, sich sprachlich abgrenzt, an einem anderen Tisch isst, etc., das Klima stört, ist zu erwarten. Es äußert sich schon wenn wir, aus welchem Anlass auch immer, eine Party veranstalten und abwechselnd die Afghanen und die Afrikanischstämmigen, bis auf wenige Ausnahmen unter sich, zu ihrer Eigenen, nicht jedoch zur Musik der Anderen tanzen. Zudem haben sie letzte Woche einen zweitägigen Essensboykott abgehalten, um sich zu beschweren, dass wir im Moment keinen Koch haben und somit gelieferte Mahlzeiten bekommen.

Eine weitere ganz interessante Geschichte ist die des „kleinen Filmon“, eines jeunes aus Eritrea, der erst vor drei Monaten gekommen ist und nun schon wieder gehen musste. Er war immer schwierig, musste sehr um seinen Platz in der Gruppe kämpfen, hat immer jeden provoziert und sich leider oft mit anderen jeunes gestritten. Für mich und meine Kollegen war es sehr schwierig mit ihm zu arbeiten. Als Grund dafür, dass er nun vor die Tür gesetzt wurde und vorerst im Hotel wohnt, kann man wohl all das aufzählen und man könnte viele kleine Geschichten erzählen. Sei es, dass er Lebensmittel, die ihm nicht gefielen, unberührt in den Müll warf, sei es, dass er mit drei anderen jeunes aus dem Büro 8 Bettdecken geklaut hat um diese zu verkaufen, oder sei es, dass sein zuständiger Educateur an ihm verzweifelte. Zudem wurden auch 300 € geklaut und man weiß bis heute nicht, wer es war. Entschieden wurde unter den Mitarbeitern jedenfalls, ihn rauszuwerfen. Er machte sich noch alle Ehre und warf zum Abschied zwei bepflanzte Blumenkübel von draußen in den Flur. Ob es nun aber richtig war, sich nicht weiter um ihn zu kümmern (zur Beruhigung: er hat nur aus unserem Foyer gehen müssen und wird weiter von der staatl. Behörde betreut) bleibt eine offene Frage, auf die aber zumindest unser Psychologe „Nein“ antwortet. Denn es sei ja genau unsere Aufgabe, den Jugendlichen zu helfen, ihnen eine erste solide Basis für ein eigenständiges Leben zu schaffen. Wir haben das in diesem Fall nicht geschafft und ich hoffe, dass er anderswo eine neue Chance erhält. Denn abgesehen von all diesen Problemen war er vor allem ihm Umgang mit mir meist ein offener und hilfsbereiter Jugendlicher.

Es sind nun mal die wenigsten jeunes, die den geebneten Weg gerade gehen und die nach einem Jahr im CAOMIDA 10-jahres-Papiere und eine gute Aussicht auf ein Leben in Frankreich haben. Dies zeigt auch wieder ein anderer Fall: Ein Jugendlicher kam an einem Freitag hier an, hat zu Abend gegessen, hier geschlafen, und ist wieder verschwunden. Ich selbst habe ihn nie kennengelernt. Sein Ziel war wohl ein anderes als Paris. Vermutlich ist er mittlerweile schon auf dem Weg in England.

Mir ist in den letzten Monaten eine Sache immer mehr bewusst geworden. Es ist, dass man sich selbst und die Sicht auf die Dinge im Projekt mit der Zeit enorm ändert. Die Erwartungen ändern sich, sowohl bei der Arbeit, als auch im Privaten.

Vor Beginn des Friedensdienstes war es Aufregung und Vorfreunde. Am Anfang ist es Euphorie, man sieht das Leben mit der rosaroten Brille. Dann wird es schwerer, anstrengender, der Alltag kehrt ein und man beginnt die Abläufe kennen zu lernen und ein klein wenig verschwindet der Reiz. Und doch macht es aber noch immer Spaß. Es kommt das Zwischenseminar, die zweite Hälfte des Jahres bricht an und man nimmt sich sehr viel vor, man steckt sich neue Ziele – und eventuell Alte neu. Es geht mit frischem Wind weiter.

Und jetzt folgt die Zeit, in der mir eben bewusst wird, dass meine Euphorieblase geplatzt ist, dass auch mein kleines Tief überwunden ist und dass sich mein Blick verändert hat.

Nicht alles ist gut und erst recht nicht perfekt, und es muss auch nicht so sein. Bei alldem macht mir das Leben im Projekt und außerhalb aber jetzt am meisten Spaß. Ich gehe bei der Arbeit sicher und selbstbewusst mit den Jugendlichen um, ich verstehe mich gut mit den Kollegen und kann in meiner Freizeit abschalten und die Stadt oder auch mal das französische Bier genießen, selbst, wenn ich dabei schon sehr oft an die Zeit nach meiner Erfahrung hier in Paris denken muss.

Und es ist und bleibt immer noch die Bestätigung in ganz bestimmten Momenten, die für mich das ganz Besondere an der Erfahrung der Arbeit mit minderjährigen, alleinstehenden Flüchtlingen darstellt. Dann, wenn ich mit ihnen alleine unterwegs bin, wenn ich ihnen etwas zeigen kann, wenn ich etwas mit ihnen erlebe. Es ist, wenn sie mich mit in die Moschee nehmen um mir ihre Religion zu erklären oder wenn wir zu ihrer Musik tanzen und singen. Und es sind fast intime Momente, in denen sie mir Dinge erzählen, bei denen ich weiß, dass sie es niemandem sonst erzählen. Dass ich Musik aus dem fernen Osten hören würde, wenn ich jetzt mitten in der Nacht hier sitze und meinen Rundbrief schreibe, hätte ich wohl auch nie erwartet.

Ich weiß, dass ich hier gebraucht werde und dass ich diesen jungen Menschen helfen kann.

Ich bin vor allem in großer Vorfreude auf viele weitere solcher Momente sehr froh, noch drei Monate hier zu sein.

Doch zunächst werde ich mit Lasse, meinem Mitbewohner, eine dreiwöchige Frankreich-Rundreise machen und dieses unheimlich schöne Land südwestlich von Deutschland erkunden.

Ich bin sehr froh um die Möglichkeit, hier zu sein.

Merci de votre soutien.

Vielen Dank für eure/Ihre Unterstützung.

Viele liebe Grüße hinaus in die Welt,

Julius Holsten

Antworten

  1. Das finde ich immer wieder ganz beeindruckend, was Du schreibst. Tja, so ist es wohl. Gut, dass das leben auch andere Seiten hat. Andere Kulturen können einen doch sehr bereichern und das eigene Tun hinterfragen.

    Sei lieb gegrüßt, mein Lieber.

    Papa.


Hinterlasse einen Kommentar